Die Zahl offener Stellen erreicht Rekordwerte, während die Bewerbernachfrage zurückgeht. Bis so manche Vakanz in Mobilitätsunternehmen besetzt ist, dauert es mehr als ein halbes Jahr. Können höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen Abhilfe schaffen?
Seit Januar 2023 stellen wir hier in diesem Blog Frauen und ihre #mobilityjobs vor: sie alle arbeiten in Berufen mit einem großen Personalmangel. Sie alle sind gesuchte Fachkräfte. Manche von ihnen sind Quereinsteigerinnen, andere wussten schon früh, dass sie einmal Menschen und Waren bewegen wollen. Eins haben sie alle gemeinsam: Sie suchen Kolleginnen und Kollegen. Vom Fahrdienst im ÖPNV über die KfZ-Werkstatt, von der Unternehmensberatung bis zur hauseigenen Strategieabteilung, vom eScooter-Verleih bis zum Kreuzfahrtbetrieb: überall fehlen Menschen. Das spüren die Unternehmen in der Planung, der Produktion – und die Menschen am Bahnsteig, wenn wegen Krankheit und Personalmangel der Zug ausfällt.
Laut einer Umfrage des Verbandes der Automobilindustrie (VDA) unter den Automobilzulieferern sowie den mittelständisch geprägten Herstellern von Anhängern, Aufbauten und Bussen seien rund 82 Prozent der Unternehmen stark oder sehr stark durch die hohen Strompreise belastet. Direkt gefolgt vom Fachkräftemangel, den 77,6 Prozent der Befragten stark bis sehr stark zu spüren bekommen.
Vakante Stellen und monatelange Suche
Zwar nimmt die Zahl der unbesetzten Stellen in Deutschland allgemein ab - im zweiten Quartal 2023 gab es einen Rückgang um 188.000 Stellen im Vergleich zum Vorjahresquartal – nur am Mangel ändert sich nichts. Besonders in den attraktiven Berufe der Mobilitätsbranche wie Data Scientists, Fachleute für Elektronik, Elektrotechnik und Mechatronik, aber auch System- und Fachinformatiker:innen, Datenschutzexperten, Ingenieur:innen sowie Mobilitätsberater:innen und 3-D-Druck-Spezialisten gibt es zu wenig verfügbare Arbeitskräfte.
Auch in Ausbildungsberufen fehlt es an Bewerbungen. Laut Bundesagentur für Arbeit dauert es durchschnittlich 193 Tage, eine vakante Triebfahrzeugführer-Stelle neu zu besetzen. Bei Fachkräften zur Überwachung und Wartung der Verkehrsinfrastruktur dauert es im Schnitt 175 Tage, bis die passende Person gefunden ist. Das sind 63 Prozent über dem Durchschnitt aller Berufe. Laut ifo-Institut suchen deutsche Unternehmen durchschnittlich drei bis vier Monate nach Fachkräften.
„Deutlich verkürzen können Unternehmen die Zeit, wenn sie sich als Arbeitgeber positionieren, der auf Vielfalt in der Belegschaft achtet“
Julia Freuding aus der ifo-Niederlassung in Fürth
„Die Ursache für den akuten Personalmangel liegt keineswegs darin, dass die Unternehmen unattraktiv wären. Mobilität ist ein Megathema“, erläutert Dr. Jan Schilling, Geschäftsführer für den Bereich ÖPNV beim Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV). „Vielmehr fehlt es der Branche an Wahrnehmung und Kommunikation in die Bewerbermärkte. Wir sind hier teils noch zu zaghaft.“ Und Ökonom Clemens Fuest, Präsident des ifo Instituts, sagte im Januar gegenüber dem Bayerischen Rundfunk: „Die wichtigste Antwort auf Fachkräfteknappheit ist das Erhöhen von Löhnen.“
Aber ist es so einfach? Mehr Werbung und bessere Löhne und schon läuft’s? Dagegen spricht, dass selbst Konzerne wie Porsche, Mercedes, BMW und Audi, die ein sehr gutes Arbeitgeberimage haben und überdurchschnittlich zahlen, händeringend Leute suchen. Die Automobilbranche gelte als attraktiv, "aber die Menge an jungen Leuten wird weniger", erklärt VDA-Präsidentin Hildegard Müller die Problematik.
Zu wenig Menschen für die Menge an Arbeit
Das ist im öffentlichen Verkehr nicht anders. Aktuell kommen auf 100 gemeldete offene Stellen für Triebfahrzeugführer rechnerisch nur 36 passend qualifizierte Arbeitslose. Bundesweit.
Natürlich gibt es auch Berufe, in denen die sogenannte Engpassrelation jenseits der 100 liegt, also mehr als 100 passend qualifizierte arbeitslose Personen auf 100 Vakanzen kommen. Bei den Fachkräften für Floristik ist das beispielsweise so. Hier kommen 112 potenzielle Bewerber:innen auf 100 Stellen. In der Mobilitätsbranche sieht es leider anders aus.
Dieses Ungleichgewicht zwischen Nichtbeschäftigten und dem Bedarf an Arbeitskräften verschwindet nicht einfach, wenn Unternehmen Homeoffice anbieten oder höhere Löhne bezahlen. Wobei es natürlich grundsätzlich stimmt, dass gute Löhne und flexible Arbeitsbedingungen Arbeitgeber attraktiv machen. Kurzfristig ändert es aber nichts.
VDA-Präsidentin Müller sagte dazu den Funke Zeitungen, sie persönlich glaube, "dass wir auf Dauer nicht um eine Erhöhung des Renteneintrittsalters herumkommen werden".
Von der Regierung wünscht sie sich mehr Tempo beim Fachkräftezuwanderungsgesetz. "Wirtschaft und Politik müssen massiv in Bildung, Weiterbildung und Umschulungen investieren und wir alle müssen neue Arbeitszeitmodelle überlegen",
Hildegard Müller, Präsedentin des VDA
Außerdem müsste man junge Menschen besser qualifizieren. "Es gibt zu viele Schulabgänger ohne Abschluss - in einem Land wie Deutschland. Das muss sich ändern, das Potenzial genutzt werden", so Müller. Die duale Ausbildung müsse weiter gestärkt werden und es brauche "mehr an Praxisnähe in den Hochschulen".
Was können Unternehmen selbst tun?
Um jetzt akut Lücken zu besetzen, sollten Unternehmen auf Vielfalt im Recruiting setzen, sagt Julia Freuding aus der ifo-Niederlassung in Fürth. „Vielfalt bei der Stellenbesetzung dient den Unternehmen immer häufiger als Mittel gegen den Fachkräftemangel.“
Unternehmen, die angeben bei der Neueinstellung auf Vielfalt zu achten, besetzen ihre Stellen laut ifo deutlich schneller: 47,8 Prozent haben innerhalb von zwei Monaten eine neue Kollegin oder einen neuen Kollegen gefunden.
Um vielfältigere Bewerber:innen anzusprechen, setzen Unternehmen vor allem darauf, ihre Stellenanzeigen entsprechend zu formulieren (65,4 Prozent), dazu gehört auch die gezielte Ansprache bestimmter Gruppen von Bewerber*innen (30,7 Prozent).
Außerdem sollten Unternehmen den lokalen Arbeitsmarkt analysieren. Von den 36 qualifizierten Triebfahrzeugführer:innen, die auf 100 offene Stelle kommen, leben sicher nicht alle an dem Standort, an dem der Bedarf gerade am größten ist. Aber vielleicht gibt es vor Ort potenzielle Kandidat:innen für eine Umschulung. Es schade auch nicht, die Arbeitsbedingungen und Gehaltsstrukturen der Konkurrenz zu kennen und das eigene Angebot gegebenenfalls daran anzupassen.
Höhere Löhne zahlen, auf Vielfalt achten, bessere Arbeitsbedingungen bieten, mehr ausländische Fachkräfte einstellen, aus- und weiterbilden und für ein attraktives Arbeitgeberimage sorgen: so können Unternehmen um die Talente buhlen, die da sind. Trotzdem: Unternehmen sollten besser nicht auf eine Stabilisierung des Arbeitsmarktes hoffen. Vielmehr müssen Prozesse verschlankt, digitalisiert und auch eingestampft werden, damit Betriebe langfristig mit den wenigen Fachkräften auskommen, die da sind. Es werden keine vom Himmel fallen.
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