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“Nicht alles, was gerade fancy ist, ist auch sinnvoll”

Die Corona-Pandemie und deren Auswirkungen auf die Mobilität waren natürlich auch im Themenforum “Vernetzte Mobilität” ein Thema. Während im Sommer noch alle aufs Rad umgestiegen sind, sei der Kleinwagenmarkt in NRW jetzt im Herbst und Winter leergefegt, so NRW-Verkehrsminister Hendrik Wüst.


Die Menschen zurück in Bus und Bahn zu bringen, das sei auch eine Herausforderung für die vernetzte Mobilität.


“Bequemlichkeit schlägt alles: Wenn ich in einer fremden Stadt vor einem Ticketautomaten stehe und überlegen muss, was eine Wabe ist, wie viele Stationen noch Kurz- oder schon Langstrecke sind und ich dann noch passend zahlen muss, dann sage ich mir: Ach komm, ich nehme ein Taxi.”


NRW-Verkehrsminister Hendrik Wüst



Dieses Chaos aus Verkehrstarifen kaufe man sich in NRW gerade weg: Für 100 Millionen Euro entsteht an Rhein und Ruhr das überall gültige eTicket. Damit entsteht eine vernetzte Infrastruktur, die in der Region jahrzehntelang politisch nicht gewollt, zumindest aber nicht gefördert worden sei. “Da gibt es nicht einmal einheitliche Spurbreiten bei den Bahnen. Das gehen wir jetzt an.” Mit einem einheitlichen Verkehrs- und Ticketsystem ist es in Sachen vernetzter Mobilität aber noch lange nicht getan. Auch die Usability von Fahrkartenautomaten und die Apps müssen besser werden, da waren sich die Diskutanten einig. Allein bei den Teilnehmern des Bündnistags hatte mehr als ein Drittel zwischen drei und fünf verschiedenen Mobilitäts-Apps auf dem Smartphone.



Eine App für alles - gute Beispiele aus Berlin und Köln

Ein Angebot wie die Berliner App Jelbi, die sowohl Ridesharing-Angebote als auch Taxis, ÖPNV und Leih-Rädern - in einer Anwendung buchbar und nutzbar macht, sei ein gutes Vorbild. “Das läuft in Berlin erst so langsam an, weil ich natürlich in der Stadt, in der ich lebe, auch weiß, wie ich fahren muss. Aber spätestens, wenn ich in einer anderen Stadt bin, brauche ich so etwas”, sagt Dr. Sigrid Evelyn Nikutta, Vorstandsvorsitzende der DB Cargo. Auch die Kölner Verkehrsbetriebe feilen an einer all-in-one-App, wie KVB-Vorstandsvorsitzende Stefanie Haaks verriet: “Wir haben die klassische Fahrplanauskunft und das Ticketing für Köln und ganz NRW, das KVB-Rad, Carsharing-Anbieter wie Cambio, aber auch eScooter wie TIER und den Taxiruf in einer App. Für die Bezahlung und Abwicklung wird noch teilweise in die anderen Apps übergeleitet, aber das soll perspektivisch in einer App stattfinden.”

Mehr als eine Million Klicks pro Tag verzeichne die KVB-App bereits, die Usability sei aber durchaus noch ausbaufähig, so Haaks.


Ganz neue Herausforderung für ÖPNV-Anbieter

Eine gut funktionierende App oder auch ein neues, digitales Geschäftsmodell zu etablieren, sei jedoch nie eine reine Technikfrage, sagt Panos Meyer, federführend bei der Entwicklung der HVV Switch-​App der Hamburger Hochbahn. “Es geht selten um Technik, es geht immer um Menschen.”

Sowohl die Bedürfnisse der Kundinnen und Kunden als auch um die Menschen in den Unternehmen, die plötzlich nie gekannten Herausforderungen gegenüberstehen: Während sie jahrelang mit ihren Verkehrs- und Fahrplänen den Takt der Mobilität vorgaben, tauchen nun über Nacht und ohne Vorwarnung ganz neue Mobilitätsanbieter auf - und die Nutzer nehmen diese sofort an. Egal, ob eRoller, Carsharing, myTaxi: “Je schneller, besser und kundenorientierter das Angebot, desto besser für die Kunden. Deshalb muss man alle Spieler im Markt ernst nehmen. Ihre Erfahrung und Vorherrschaft kann über Nacht wertlos werden.”


Wer eine erfolgreiche App bauen wolle, benötige deshalb viel mehr, als nur eine Entwicklungsabteilung. “Neue Mobilität bedarf Investitionen, Zeit und Know How - und Plattformen zum Austausch wie den Bündnistag”, so Meyer. Erst wenn ein Unternehmen entscheidungsfähig, handlungsfähig, zukunftsfähig und beziehungsfähig sei, dann erst sei es nämlich auch digitalisierungsfähig. Und um dorthin zu kommen, brauche es den Austausch mit anderen.


Außerdem natürlich Mut, Offenheit für Neues, die Bereitschaft, Fehler zu machen, eine klare Strategie und das Bewusstsein, nicht Spieler in einem neuen Spiel zu sein, sondern auch in einem ganz neuen Stadion mit ganz neuen Regeln: “Die Komplexität von Digitalprojekten ist nicht vergleichbar mit der eines Tunnelbaus oder einer Stadtplanung”, sagt Meyer. “Und auf einmal gibt der Nutzer das Ziel vor und der Wettbewerb das Tempo.” Daran müssen sich große Player gewöhnen, wenn es mit der vernetzten Mobilität klappen soll.



Daten sind der Schlüssel

Für Apps wie die der Hamburger Hochbahn, der KVB oder auch das Berliner Modell Jelbi, braucht es aber noch mehr: Nämlich eine ganze Menge Daten - die einzelne Unternehmen oft als hoheitlich betrachteten, so Christian Baudis, Ex-Deutschlandchef von Google. “Wir könnten aus den Daten der mobilen Endgeräte allgemeine Verkehrskonzepte ableiten, wie das andere Städte in anderen Ländern schon längst tun. Aber wir trauen uns in Deutschland da nicht so recht ran. Und wenn denken wir gleich in Bahn, Bus, Taxi und so weiter, anstatt erst einmal ein Vorhersagen auf Basis der Daten zu machen.”



Für eine funktionierende vernetzte Mobilität sah er vor allem die deutsche Sorge um den Datenschutz als hinderlich an. Für den Erfolg der Digitalisierung müsse man sich fragen, was anonyme Bewegungsdaten, die Smartphones in Echtzeit generieren, über die Mobilität und die Bewegungsmuster der Menschen aussagen. Und wie sich daraus Vorhersagen und Angebote generieren lassen. Dann könne Digitalisierung die Mobilität in Deutschland verbessern. Auch über Steuerungsmechanismen: Wer anhand der Daten erkennt, wo sich gerade wie viele Menschen bewegen, könne beispielsweise Parktickets teurer oder ÖPNV-Tickets günstiger anbieten, um so Verkehrsströme zu lenken.

Vernetzte Mobilität erfordert auch vernetztes Denken

“Mit Daten umzugehen, ist auch Kulturfrage, da braucht es eine gewisse Aufklärung”, ergänzte Prof. Dr. Armin Nassehi, Soziologe an der LMU München. So lange Hoheitswissen - auch im unternehmerischen Kontext - Macht sei, werde niemand freiwillig seine Daten mit anderen teilen.


“Wir lösen die Schnittstellenproblematik nicht, wenn wir den Menschen nicht erklären können, dass wir ihnen nichts wegnehmen, sondern vernetzte Mobilität einen Mehrwert bietet.” Das gelte auch für die Kundinnen und Kunden. Wer ein Auto vor der Tür habe, müsse überzeugt und nicht überredet werden, dass es sinnvoller ist, sich multimodal durch die Stadt zu bewegen. Sein Fazit: “Wir überzeugen Menschen nicht mit langen komplizierten Sätzen mit vielen Nebensätzen, sondern nur mit Lösungen, die funktionieren.”

Da gebe es aktuell - gerade bei der Alltagsmobilität - noch Schwierigkeiten, so Dr. Barbara Lenz. Sie ist Direktorin des Instituts für Verkehrsforschung am Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt und Professorin für Verkehrsgeographie an der HU Berlin.


“Ohne Auto unterwegs zu sein und nur mit dem Handy eine Strecke durchgängig zu planen und zu buchen, wird schwierig, wenn Sie mit Kindern unterwegs sind, mit älteren Menschen, wenn sie selbst einen Rollator nutzen oder schweres Gepäck dabei haben”, sagt sie. Außerdem sei die Anzahl der Verkehrsmittel, die Menschen in ihrem Alltag nutzen, im Alltag zu gering, um wirklich von vernetzter Mobilität sprechen zu können: “Wann haben Sie im Alltag denn wirklich eine multimodale Wegekette? Wann gehen sie 100 Meter zu Fuß, um dann mit dem Leihroller zur U-Bahn zu fahren, dann vielleicht noch ein Stück mit dem Carsharing-Auto und dem Leihrad, um zur Arbeit zu gelangen? Solche Ketten gibt es doch höchstens im Reiseverkehr.”

Hier könne eine vernünftig eingesetzte Digitalisierung helfen, Multimodalität attraktiver zu machen.



Auch bei der Nutzung von Mobility as a Service spiele es eine große Rolle, ob der Nutzer beziehungsweise die Nutzerin alleine unterwegs sei, ob sie pendelt oder es sich um Freizeitverkehr handele, so der Informatiker Dr. Christian Lange vom Verkehrsministerium NRW. Aber natürlich gelte auch hier für die Akzeptanz der Bevölkerung dasselbe wie für vernetztes multimodales Vorankommen: Der Reisende müsse im Vordergrund stehen, die Anwendung “nahtlos sein, einfach und sofort per Knopfdruck funktionieren.”

Damit das gelingen könne, müssten die rund 130 Verkehrsunternehmen, die es allein in NRW gibt, ein gemeinsames Zielbild entwickeln und anhand dessen die bestehenden Angebote abgleichen und sich fragen, wie diese auf das Zielbild einzahlten. “Mobility as a service ist ein Mannschaftssport”, so sein Fazit. Der ÖPNV als das Rückgrat der neuen Mobilität müsse mit Start-ups, der Politik und Infrastrukturbetreibern an einem Strang ziehen und gemeinsam mit dem Verkehrsministerium als Koordinator das beste Angebot für die Bürger schaffen.


Und was ist mit den großen Innovationen?

Natürlich ging es auch immer wieder um Technologien, die die Welt verändern werden, um große Innovationen, Experimente, Mikromobilität und auch um autonomes Fahren - so zum Beispiel bei der Diskussionsrunde mit Pascal Finette, der an der Singularity University im Silicon Valley lehr und bereits für Google, eBay und Mozilla gearbeitet hat.



Jedoch waren sich alle Teilnehmer einig, dass Vernunft und Augenmaß beim Einsatz der digitalen Möglichkeiten wichtig sind. “Nicht alles, was gerade fancy ist, ist auch sinnvoll”, brachte DB Cargo-Vorständin Nikutta es auf den Punkt. Ein verbesserter und vereinfachter Zugang zu öffentlichen Verkehrsmitteln sei für die Verkehrswende wichtig, autonom fahrende U-Bahnen zunächst nicht. “Was das kostet, eine existierende U-Bahn auf autonomes Fahren umzurüsten, nur um die Kosten für einen armen U-Bahn-Fahrer einzusparen – das ist unverhältnismäßig”, sagte sie. Das Geld sei an anderer Stelle besser eingesetzt, beispielsweise für die Kommunikation der Züge untereinander oder für autonome Assistenzsysteme für die Fahrerinnen und Fahrer. “Mit dem Geld könnten wir z.B. den Güterverkehr so einfach machen wie online shoppen. Dass ich mit einem Klick Ladekapazitäten buche.”


Unabhängig davon, ob es um den ÖPNV, den Schienengüterverkehr oder MaaS-Apps ging: Wichtig sei immer eine Kombination aus Push und Pull-Faktoren. Ein schönes Angebot beim öffentlichen Nahverkehr oder Sharing-Angeboten allein genüge nicht, es müsse auch unattraktiv sein, mit dem Auto in die Innenstadt zu fahren, sagte beispielsweise DLR-Chefin Lenz. Während auf der einen Seite Digitalisierung und Vernetzung helfen, das Angebot attraktiver zu gestalten, fehle es auf der anderen Seite an politischen Steuerungselementen beim Individualverkehr wie Citymaut & Co.


Dabei sei die Zeit jetzt reif dafür - auch in den Köpfen der Menschen. Denn, wie Nikutta sagte: “Gegen die Klimakrise gibt es keine Impfung.”


 

Jetzt bist du dran: Wie erlebst du die Mobilität an Rhein und Ruhr? Welche Initiativen findest du gut, welche Bustaktung treibt dich zur Weißglut? Welches Startup hat die Mega-Idee? Was ist dein Lieblingsverkehrsmittel, wer ist dein Mobilmacher schlechthin, welche Women in Mobility sollte die Community kennen lernen? Schick uns deinen Impuls (gerne mit Foto!) per Mail an rhein-ruhr@womeninmobility.org oder melde dich bei LinkedIn bei uns.

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