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„Sehbehinderte analysieren ihre Umgebung mit allen Sinnen“

Monique Dillner ist im Wortsinne Mobilmacher*in: Für den Blinden- und Sehbehindertenverband Nordrhein hilft sie Menschen, die ihre Sehkraft ganz oder teilweise verloren haben, sich wieder selbstständig im Alltag zu bewegen.


Fotos: Monique Dillner


Wie viele Menschen in Deutschland sehbehindert sind, weiß nicht einmal der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV) genau. Über diese Art der Einschränkung gibt es keine offizielle Statistik. Laut Schwerbehindertenstatistik waren Ende 2017 in Deutschland mehr als 350.000 schwerbehinderte Menschen (auch) blind oder hatten eine Sehbehinderung. Da eine körperliche Beeinträchtigung aber bei den Behörden nicht gemeldet werden muss, geht der DBSV von deutlich mehr Betroffenen aus.

Die WHO beispielsweise schätzt die Zahl der sehbehinderten Menschen in Deutschland auf über eine Million. Jedes Jahr kommen demnach 160 Kinder in Deutschland blind zur Welt. Zusätzlich verlieren der WHO zufolge in Deutschland jedes Jahr rund 10.000 Menschen ihre Sehfähigkeit. Zum Beispiel infolge eines grünen oder grauen Stars, wegen Diabetes oder wegen einer altersbedingten Hornhautablösung. Auch ein Unfall, eine Embolie oder ein Schlaganfall können dafür verantwortlich sein, dass ein Mensch nicht mehr gut oder gar nicht mehr sehen kann.



Mit Mobilitätstrainer*innen zurück zum selbstbestimmten Alltag

Diesen Menschen helfen Mobilitätstrainer*innen wie Monique Dillner vom BSV Nordrhein. Etwa 70 Prozent ihrer Klienten seien Menschen, die als Erwachsene ihre Sehkraft teilweise oder (nahezu) vollständig verloren haben. Ihre Arbeit umfasst deshalb Grundtrainings, die für Erwachsene von der Krankenkasse finanziert werden. Auf Rezept vom Augenarzt gibt es sowohl zwei Blindenlangstöcke als auch ein Grundlagentraining bei Dillner oder ihren Kolleg*innen. Dabei werden auch grundsätzliche Fragen beantwortet: „Wie gehe ich mit dem Blindenstock um, wie überquere ich eine Straße, wie schaffe ich es in meinen Supermarkt?“ Aber auch arbeitsbezogene Trainings (z.B. die Bewältigung des täglichen Arbeitsweges) oder Trainings zum Erlernen veränderter Handlungsabläufe in der neuen Umgebung nach einem Umzug gehören zu ihren Aufgaben. Das sind Maßnahmen, die die Arbeitsagenturen, Rentenversicherer oder andere Behörden im Rahmen einer Eingliederungshilfe übernehmen können.

 

Monique Dillner ist staatlich geprüfte Fachkraft der Blinden- und Sehbehindertenrehabilitation. Die Schwerpunkte ihrer Arbeit beim BSV Nordrhein sind Orientierung und Mobilität (O&M) und Lebenspraktische Fertigkeiten (LPF). Sie ist also Mobilitäts- und LPF-Trainerin. Das bedeutet, dass sie blinde und sehbehinderte Personen dabei unterstützt, nach dem Verlust der Sehfähigkeit ihren Alltag wieder selbstständig zu meistern: von dem Blindenlangstocktraining und der Haushaltsführung über den Arbeitsweg bis zum Restaurantbesuch.

 

Dillner sei aber auch schon auf junge Erwachsene getroffen, die von ihrer Familie aufgrund ihrer Sehbehinderung überbehütet worden seien. Dies führe oft dazu, dass im Training auch einfache Grundfertigkeiten im Alltag und der Haushaltsführung erworben und das eigene Selbstvertrauen gestärkt oder gar neu aufgebaut werden muss. „Mit 17, 18 Jahren sollten meine Kund*innen in der Lage sein, ihre Freund*innen selbstständig zu besuchen und sich an den Eltern vorbei im Supermarkt die ungesunden Chips zu kaufen.“


Oberstes Ziel ist die Sicherheit der Sehbehinderten

Einige der Trainings beginnen bereits im Haushalt: Menschen, die plötzlich ihre Sehfähigkeit verlieren, müssen lernen, wie sie sich im eigenen Haus sicher bewegen, ohne sich zu verletzen. „Der erste Impuls ist ja, sich tastend, ggf. mit ausgestreckten Armen, fortzubewegen, entweder um Halt zu erlangen oder bekannte Gegenstände für die Orientierung zu erkennen. Typische Fallen für den Körper sind dabei Spalten an den Türangeln, offene Schränke und nicht ordnungsgemäß zurückgeschobene Stühle am Tisch.“, erklärt die Mobilitätstrainerin. „Man erlernt sich mit einer aufrechten Körperhaltung und durch Körperschutztechniken in seinen eigenen vier Wänden fortzubewegen. Solche Sachen üben wir.“

Im gewohnten Zuhause finden sich die meisten Menschen, auch bei einem totalen Sehkraftverlust, aber meist schnell zu recht. Deshalb geht Dillner mit ihren Klienten zügig raus auf die Straße: „Wir müssen dabei gemeinsam herausfinden, welchen Blindenlangstock die Person braucht. Dafür bringe ich u.a. in Erfahrung, wie lang die Schrittlänge der Person und deren voraussichtliche Entwicklung des Geh-Tempos ist. Auch körperliche Konditionen wie z.B. rheumatische Erkrankungen oder schnelles Schwitzen der Hände spielen eine Rolle.“


All diese Faktoren entscheiden darüber, welches Hilfsmittel überhaupt geeignet ist. Zwar könne man die Blindenstöcke mittlerweile auch bei Ebay kaufen, doch der Stock allein helfe den Menschen nicht. „Auch der richtige Umgang damit will gelernt sein.“ Ist der passende Stock gefunden, übt Dillner mit ihren Klienten deshalb zunächst im möglichst geschützten Umfeld, z.B. auf einer Spielstraße oder einem Parkplatz. Auch ein öffentliches Gebäude kann ein geeigneter Übungsort sein. Dort sollen die Klienten lernen, wie sie mit dem Stock Hindernisse rechtzeitig erkennen und anhand der Beschaffenheit des Untergrunds ihre aktuelle räumliche Lage besser einordnen. Vor allem geht es aber um die optimale Pendelbreite des Stocks. „Der Stock soll den sehbehinderten Menschen schützen, nicht andere vom Gehweg fegen."


Chaos in der Stadt, Barrieren auf dem Land

Erst wenn ihre Klienten im Umgang mit dem Hilfsmittel ausreichend sicher sind, geht es an die eigentliche Herausforderung: die Erprobung der erlernten Inhalte im Verkehr. Was in Großstädten wegen des Verkehrs und der zahlreichen Akteure im Straßenverkehr anstrengend ist, wird außerhalb der Städte wegen fehlender Blindenleitsysteme oder Blindenampeln noch schwieriger. Während diese Systeme an Hauptbahnhöfen, in den Fußgängerzonen, neugebauten Behörden oder manchen Museen in den großen und mittleren Städten an Rhein und Ruhr durchaus vorhanden sind, steht es in so manchem Dorf schlecht um die Barrierefreiheit. Den Machern der App Ampel Pilot zufolge sind deutschlandweit nur zehn bis zwölf Prozent der Ampeln blindenfreundlich. Das heißt, dass sie akustische oder taktile Signale von sich geben, wenn Fußgänger grün haben. Und diese Ampeln stehen eben eher in den Metropolen. Allein in Dortmund zum Beispiel liegt der Anteil der Ampeln mit Signalen für Sehbehinderte bei rund 42 Prozent.

„Wenn jemand eine Ampel vor der Haustür hat, die er täglich benutzen muss, um zum Einkaufen zu gehen, zum Arzt, zum Bus oder wohin auch immer und die weder brummt noch piept oder sonstige Signale gibt, könnte er direkt aufgeben und zu Hause bleiben. Für technikaffine Leute gibt es Apps wie Ampel-Pilot, die anzeigen, ob die Ampel entweder rot oder grün ist. Die wohl beste und unabhängigste Variante aber ist, auf den Verkehr zu hören und vorhandene Installationen zu nutzen. Und das bringe ich den Menschen bei“, sagt Dillner.

Denn auch das Smartphone hilft nicht immer und überall. Abhängig von Lichtverhältnissen, Akkustand, Datenvolumen oder Internetverbindung lassen auch nützliche Apps wie Blindsquare, Ampel-Pilot oder Google Maps Sehbehinderte manchmal im Regen stehen.


Sehbehinderte müssen ihre Umgebung neu kennen lernen

Für sehbehinderte und blinde Menschen heißt es im Straßenverkehr deshalb vor allem: genau zuhören, den Verkehr beobachten und die Umgebung neu kennenlernen. „Wir arbeiten immer mit dem startenden Verkehr“, sagt Dillner. „Das ist das einzige, worauf Sie sich verlassen können: Wenn die Autos grün haben, fahren sie los.“ Ein abbremsendes Fahrzeug sei dagegen kein Garant dafür, unfallfrei die Straße überqueren zu können.

Weil Sehbehinderte Menschen ihre Umwelt anders wahrnehmen als früher, verstärken die Mobilitätstrainer*innen die bewusste Wahrnehmung des Verkehrsraums. Dazu gehören sowohl akustische als auch taktile Signale wie bei Blindenleitsystemen. Falls die Person Ortskenntnisse hat und die visuellen Orientierungspunkte an der Straße oder der Kreuzung - beispielsweise grelle Lichter oder kontraststarke Objekte - erkenne, bezieht Dillner diese Dinge in das Training ein. Wichtig sei, dass die persönlichen Hürden im Verlauf des Unterrichts durch neue möglichst positive Erfahrungen und Wissen überwunden werden.


Wer sich blind im Verkehr bewegen möchte, muss lernen, seine Umwelt bewusst wahrzunehmen und auszuwerten – und notfalls um Hilfe bitten.

Monique Dillner


Schon kleine Tricks helfen Dillners Klienten, sich im Alltag zurechtzufinden. So lohne es sich vor dem Ausstieg aus vollbesetzten Bahnen oder vor hochfrequentierten Treppen einen kurzen Moment innezuhalten und sich erst dann wieder in Bewegung zu setzen, sagt Dillner.

Trotz aller Tricks und Training: „Sehbehinderte Menschen müssen andere in die Verantwortung nehmen. Daher sollten sie an einer Ampel fragen: Sagen Sie mir Bescheid, wenn es grün ist?“, empfiehlt Dillner. „Viele gehen einfach mit sobald andere loslaufen, aber das ist sehr gefährlich. Sie können ja nicht wissen, ob es wirklich grün ist.“


Hilfreich: Sprechende Busse und Ampeln, beleuchtete Treppen

Die Schulungen durch die angestellten oder freiberuflichen Rehalehrer, hilfsbereite Mitmenschen an der Ampel, aber auch Städte und Gemeinden, Behörden und der ÖPNV können einiges dazu beitragen, die Mobilität für sehbehinderte Menschen einfacher zu gestalten.

Deutliche Ansagen der kommenden Haltestellen in Bus und Bahn stellen eines der vielen Beispiele dar. Aber auch sprechende Haltestellen, die darüber hinaus informieren, wenn die Haltestelle nicht angefahren oder der ÖPNV bestreikt wird, sind nützliche Helfer.

Mehr Blindenleitsysteme in Behörden und im öffentlichen Raum sowie blindenfreundliche Ampeln sind ein weiterer Schritt.

Innovationen gibt es hier bereits genügend, z.B. sprechende Busse in Offenbach und Düsseldorfer Ampelpfosten, die bei Annäherung ein Ortungssignal abgeben.


Allerdings mangelt es noch an der breiten Umsetzung. Dennoch gilt bei der Barrierefreiheit für Sehbehinderte wie bei allen anderen auch: One size fits nobody. „Blinde und Sehbehinderte haben unterschiedliche Bedürfnisse: Während der sehbehinderte Mensch, der vielleicht noch hell und dunkel erkennen kann, sich freut, wenn bei einer Treppe die Kanten der Stufen hell erleuchtet sind, benötigt der blinde Mensch ein Leitsystem, das ihm eine taktile Triggerung gibt, dass eine Treppe folgt.“ Sonst stolpert derjenige die hellerleuchteten Stufen hinunter.


Nun könnte man vermuten, dass Aufzüge und Rolltreppen leichter zu beherrschen sind als Treppen. Aber auch Aufzüge haben individuellen Herausforderungen, mit denen die Klienten unterschiedlich gut klarkommen, sagt Dillner. "Wo ist der Drücker? An einem separaten Pfosten vor dem Aufzug? Links oder rechts von der Tür? Und wo sind im Aufzug die Knöpfe? In welcher Anordnung?" Gerade in den aktuellen Pandemie-Zeiten möchte niemand den gesamten Aufzug mit seinen Händen abtasten müssen, um ihn nutzen zu können, so ihr Fazit.

Auch Rolltreppen seien für viele mit sehr großen Unsicherheiten verbunden. „Finden Sie doch mal mit verbundenen Augen heraus, in welche Richtung eine Rolltreppe führt, wenn Sie inmitten der Umgebungsgeräusche eines Kaufhauses oder Bahnhofs stehen“, sagt Dillner.

Auch wann und wo sich Stufen absenken oder erheben, sei schwierig herauszuhören. „Wir üben das natürlich trotzdem. Wenn Sie den Führerschein machen, können Sie ja auch nicht sagen: Autobahn will ich aber nicht fahren, das macht mir Angst. Wir bringen den Leuten bei, Alltagssituationen zu meistern. Dazu gehört dann auch, Rolltreppe zu fahren, wenn man es eben braucht.“

MOBILITY NEWS

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