„Wir empfehlen, nie die Täter anzusprechen, sondern immer das Opfer."
- womeninmobility
- 10. Nov.
- 5 Min. Lesezeit
Belästigung, Beleidigung, Bedrohung: Viele Menschen erleben Übergriffe im öffentlichen Nahverkehr. Doch wie reagiert man richtig, wenn man Zeugin wird – oder selbst betroffen ist? Die muTiger-Stiftung aus Gelsenkirchen vermittelt in Trainings konkrete Handlungsstrategien. Wir haben mit Trainerin Josephine Ategwa gesprochen.

Immer wieder kommt es im öffentlichen Nahverkehr zu Situationen, in denen Menschen beleidigt, bedroht oder angegriffen werden. Viele wissen in solchen Momenten nicht, wie sie reagieren können, ohne sich selbst zu gefährden. Genau hier setzt die muTiger-Stiftung aus Gelsenkirchen an: Seit 2011 vermittelt sie in Trainings, wie Menschen in schwierigen Situationen Haltung zeigen können, ohne sich selbst in Gefahr zu bringen. Hinter der Idee standen damals Sicherheitsexperten der KÖTTER-Unternehmensgruppe und des Verkehrsverbunds Rhein-Ruhr (VRR).
Die Stiftung bietet ihre Trainings überwiegend in NRW an, geht aber auch bundesweite Kooperationen ein. „Unser Konzept ist einzigartig“, sagt muTiger-Trainerin Josephine Ategwa. Sie hat Erziehungswissenschaften studiert und macht derzeit ihren Master. Sie sei auf die Stiftung gestoßen, als sie ein Ehrenamt gesucht habe.
„Hinschauen statt wegsehen“ – so lautet das Motto der sogenannten muTiger-Trainings. In den rund vierstündigen Kursen lernen Teilnehmende, Konfliktsituationen realistisch einzuschätzen und angemessen zu reagieren. Es geht um verbale Intervention, Deeskalation und darum, zu erkennen, wann und wie man Hilfe leisten sollte.
In realitätsnahen Rollenspielen üben die Teilnehmenden, wie sie in heiklen Situationen handlungsfähig bleiben. Sie schlüpfen in verschiedene Rollen, erarbeiten Strategien und lernen einfache, aber wirkungsvolle Grundsätze – etwa: immer zuerst das Opfer ansprechen, statt die direkte Konfrontation mit dem Täter zu suchen.
Neben diesen praktischen Übungen stärken die Trainings auch das Selbstbewusstsein und vermitteln Wissen: Wie kann ich helfen, ohne mich selbst zu gefährden? Woran erkenne ich, dass eine Situation zu kippen droht? Häufig nehmen Schulklassen oder Gruppen von Auszubildenden teil, deren Lehrkräfte oder Ausbilder:innen die erlernten Inhalte anschließend aufrecht erhalten.
Mehr als 18.000 Menschen hat die muTiger-Stiftung bereits geschult. Die Trainings finden sowohl in Präsenz als auch online statt und richten sich vor allem an Schüler:innen ab der achten Klasse – stehen aber auch Erwachsenen offen, erklärt Josephine Ategwa. Inzwischen gibt es sogar speziell entwickelte Kurse für blinde und sehbehinderte Menschen. „Unsere Trainings konzentrieren sich auf Situationen im öffentlichen Raum und im ÖPNV , bei Bedarf gehen wir zusätzlich auf besondere Themen wie zum Beispiel Diskriminierung gezielt ein", erklärt Josephine.
Durchgeführt werden die Workshops von einem erfahrenen Trainer:innen-Duo aus Pädagog:innen, ehemaligen Mitarbeitenden von Verkehrsunternehmen oder Polizist:innen und Sicherheitsexpert:innen.
Was viele nicht wissen: Schon die räumliche Positionierung kann entscheidend sein. „Wichtig ist der Auge-Fuß-Abstand: Ich muss so weit von einer Person entfernt stehen, dass ich ihre Füße sehen kann, wenn ich ihr in die Augen sehe. Das ist der richtige Sicherheitsabstand, bei dem ich auch noch fliehen kann. Die oft zitierte Armlänge Abstand, ist zu nah dran", erklärt Josephine.
Ein zentrales Problem: der sogenannte Bystander-Effekt. „Auch wenn die meisten im ÖPNV auf ihr Handy schauen und Kopfhörer in den Ohren haben, bekommen die Leute da doch mit, dass sich eine Notsituation irgendwo anbahnt. Sie fühlen sich aber nicht verantwortlich, weil sie denken: Wieso soll ausgerechnet ich etwas tun, wenn hier noch 50 andere sind?", sagt Josephine.
Hinsehen statt wegschauen! Hingehen statt umdrehen! Nein sagen statt nichts sagen! Helfen statt nichts tun! Zivilcourage dann, wenn sie nötig ist, um Anderen in kritischen Situationen zu helfen, ohne sich selbst in Gefahr zu bringen. Das zu fördern hat sich die muTiger-Stiftung zum Ziel gesetzt. Hier leistet sie einen wichtigen Beitrag, indem sie durch gemeinsam mit der Polizei entwickelte Schulungsprogramme den Einzelnen stärkt, richtig zu helfen, ohne sich selbst zu gefährden. Dies ist ein wertvoller, präventiver Handlungsansatz, der die polizeiliche Arbeit ergänzt. Dafür steht die muTiger-Stiftung, deren Engagement für eine muTigere Gesellschaft ich unterstütze.
Anne Heselhaus, Stadträtin Gelsenkirchen
Die Lösung: Menschen direkt ansprechen. „Wir raten immer, Personen anhand konkreter Merkmale anzusprechen und zum Beispiel zu sagen: Sie da mit dem grünen Hemd." So wird aus der anonymen Masse eine konkrete Person mit einer konkreten Aufgabe.
Überhaupt funktioniert Zivilcourage am besten im Team: „In einer Notsituation sollte man sich zusammentun: Der eine informiert über den Notrufknopf in der Bahn zum Beispiel das Fahrpersonal bzw. das Sicherheitspersonal im Fahrzeug, der nächste kann die Polizei rufen und der andere spricht das Opfer aus der Situation heraus."
„Wir empfehlen, nie die Täter anzusprechen, sondern immer das Opfer. Also nie zu sagen: ‚Wieso machen Sie das?', sondern dem Opfer zu sagen: ‚Hey, komm mit mir', sagt Josephine. Besonders wirkungsvoll sei die sogenannte paradoxe Intervention, bei der das Opfer wie eine alte Bekannte angesprochen und der Täter ignoriert werde. „Paradoxe Interventionen, also zu einem Opfer zu gehen und zu sagen: ‚Mensch, Sabine, schön, dich hier zu sehen, komm doch zu mir rüber' verwirren die Täter und ermöglichen es dem Opfer, die Situation zu verlassen. Das hat bei Tests der muTiger-Stiftung tatsächlich am besten geklappt."
Was tun, wenn ich im ÖPNV Zeugin oder Opfer werde?
Wer selbst betroffen ist, kann in einer akuten Situation oft nur begrenzt handeln – und doch gibt es Möglichkeiten, die eigene Sicherheit zu erhöhen. Entscheidend ist, die Situation klar einzuordnen und die Kontrolle so weit wie möglich zu behalten. Unterstützung lässt sich suchen, indem andere Fahrgäste direkt angesprochen werden oder das Fahrpersonal informiert wird. Auch ein Gang in Richtung Fahrerbereich kann helfen, Distanz zu schaffen und Aufmerksamkeit zu erzeugen.
Klare, bestimmte Worte wirken meist stärker als lautstarke Gegenwehr. Beleidigungen oder körperliche Reaktionen hingegen verschärfen das Risiko, warnt Josephine Ategwa. Hilfreich seien einfache Mittel: Licht, Lärm, Leute – also auf sich aufmerksam machen, den Raum heller und lauter werden lassen, andere Menschen gezielt einbeziehen. Jede Handlung, die Sichtbarkeit schafft, kann die Situation verändern.
Selbst die Wahl des Sitzplatzes im ÖPNV kann im Ernstfall eine Rolle spielen: „Wir raten immer dazu, sich nicht ganz hinten im Bus in die letzte Ecke zu setzen, weil man dort im Notfall schlecht herauskommt. Besser ist ein Gangplatz oder ein Vierer oder ein Platz gegenüber der Tür. Es ist sicherer, sich zu anderen zu setzen, als weit weg vom Fahrpersonal ganz allein zu sitzen."
Auch das Nachsorgen gehört dazu – Betroffene dürfen und sollten nach einem Vorfall Hilfe annehmen, über das Erlebte sprechen oder Anzeige erstatten. Nur so wird sichtbar, wo Unterstützung gebraucht wird und wo Strukturen gestärkt werden müssen.
Die muTiger-Stiftung qualifiziert Menschen in ganz Deutschland, diese Haltung weiterzugeben. Neue Trainer:innen werden schrittweise an die Arbeit herangeführt, begleiten erfahrene Kolleg:innen und übernehmen anschließend eigene Kurse. Wer die Initiative unterstützen möchte, kann als Trainer:in, Botschafter:in oder mit einer Spende dazu beitragen, dass mehr Menschen Mut lernen.
Mut ist keine angeborene Eigenschaft. Er entsteht durch Wissen, Übung und das Bewusstsein, Teil eines Miteinanders zu sein. Eine Kultur der Zivilcourage stärkt nicht nur die Sicherheit im öffentlichen Raum – sie ist auch ein Fundament für eine inklusive, respektvolle Mobilität, in der sich alle Menschen bewegen können, ohne Angst zu haben.




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