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"Wir müssen den Bahnhof als Teil des öffentlichen Raums mitdenken"

Bahnhofsläufer:innen gestalten zwischen Reisenden, Händler:innen und Menschen ohne Zuhause das Miteinander an Bahnhöfen neu. Sie vermitteln und lösen Konflikte und sind damit Teil eines Sicherheitskonzepts, das über Technik, DB Sicherheit und Polizeipräsenz hinausgeht.


Zwei Personenporträts vor der Kulisse des Berliner Hauptbahnhofs. Links eine Frau mit grünem Oberteil, rechts ein Mann mit Brille und dunklem Sakko. Im Hintergrund fährt eine gelb-rote S-Bahn in die Halle ein, die von einem gläsernen Dach überspannt ist.
Sicherheit im Bahnhof – das ist mehr als Kameras und Kontrolle.

Bahnhöfe sind verdichtete öffentliche Räume, in denen soziale, wirtschaftliche und emotionale Dynamiken aufeinandertreffen. Sie spiegeln gesellschaftliche Spannungen ebenso wider wie Solidarität im Alltag. Wer hier über Sicherheit spricht, spricht immer auch über Zusammenleben.

Wie dieser Perspektivwechsel gelingen kann, zeigt das Forschungsprojekt „Sicherheitsbahnhof“ – mit Bahnhofsläufer:innen, die Vermittlung und Moderation statt Kontrolle in den Mittelpunkt stellen. Projektleiter Florian Horn stellte das Konzept beim ÖPNV-Sicherheitskongress in Wuppertal vor: ein Ansatz, der auf Begegnung statt Überwachung setzt.

 

Dass es das Forschungsprojekt Sicherheitsbahnhof gibt, hat einen tragischen Hintergrund: Im Juli 2019 wurden am Frankfurter Hauptbahnhof ein achtjähriger Junge und seine Mutter vor einen einfahrenden ICE gestoßen. Das Kind starb. Wenige Wochen zuvor ereignete sich ein ähnlicher Vorfall in Voerde. Die mediale Aufmerksamkeit war enorm, der Ruf nach schnellen, aber auch nachhaltigen Lösungen mit neuen Ansätzen laut. „Die Diskussion sollte auch eine weitere Komponente beinhalten: Nicht nur schnell Maßnahmen zu implementieren und Härte zeigen. Der Ansatz war: Wir müssen nachhaltige Maßnahmen implementieren und langfristig über neue Konzepte nachdenken, die über bauliche und technische Komponenten hinaus gehen", sagt Florian.

Zunächst habe man sich den Bahnhof als sozialen Mikrokosmos näher angeschaut, erzählt Victoria Breda, die damals bei der Bundespolizei als wissenschaftliche Mitarbeiterin das Projekt begleitete. „Wir wollten herausfinden: Was passiert denn in diesem Bahnhof? Wer hält sich dort auf? Was für verschiedene Bedürfnisse treffen auf kleinster Fläche aufeinander? Und wie kann es dort zu Konflikten kommen?"


Gemeinsam mit dem Camino-Institut führt das Team eine sozialwissenschaftliche Grundlagenstudie durch. Forscher:innen beobachten den Alltag am Bahnhof, führten über 250 Befragungen durch, analysieren Interviews. Die zentrale Erkenntnis : Bahnhöfe sind komplexe soziale Räume. Pendler:innen wollen schnell durchkommen. Tourist:innen suchen Orientierung. Gewerbetreibende haben wirtschaftliche Interessen. Wohnungslose Menschen suchen Schutz vor Kälte. Und mittendrin: DB-Sicherheit, Bundespolizei, Bahnhofsmission. Victoria sagt: "Wir haben festgestellt, auf so einem unfassbar kleinen öffentlichen Raum oder halböffentlichen Raum treffen viele Menschen mit sehr unterschiedlichen Bedürfnissen aufeinander. Jeder kennt das von zuhause: Wenn alle gleichzeitig in die Küche wollen oder ins Bad kann das zu Konflikten führen."


Das Forschungsprojekt Sicherheitsbahnhof


Start: 2022

Träger: Deutsche Bahn AG (DB InfraGO AG), Bundespolizei

Projektbeirat: BMI und Bundesverkehrsministerium

Zentrale Studie: "Sichere Bahnhöfe für alle" (2023, mit Camino-Institut)

Pilotstandort Bahnhofsläufer:innen: Berlin

Aktuelle Standorte: Hannover, Nürnberg


Spontane Gleiswechsel, verspätete Züge und Zugausfälle, kaputte Rolltreppen: es gibt vieles, was bei Reisenden an Bahnhöfen Stress verursacht. Und es gibt Menschen und Situationen, die bei anderen für ein Unwohlsein oder auch ein Unsicherheitsgefühl sorgen: gröhlende Fußballfans gehören dazu, Betrunkene, aber auch wohnungslose Menschen, die nach Kleingeld betteln.


In Zeiten multipler Krisen wachse bei vielen Menschen das Unsicherheitsgefühl – oft, obwohl objektiv keine größere Gefahr bestehe. Stress, Enge, Ungewohntheit im Umgang mit anderen nach der Pandemie: "Ich plädiere ganz stark dafür, dass man stärker differenzieren sollte zwischen einem Unsicherheitsgefühl und einem Unwohlsein. Ich glaube, dass Menschen sich oftmals eher unwohl fühlen – was ich absolut nachvollziehen kann – aber nicht zwingend unsicher", sagt Florian. Auch für Victoria ist es entscheidend, zwischen realer Unsicherheit und subjektivem Unwohlsein zu unterscheiden – und beides ernst zu nehmen. “Viele Probleme, die am Bahnhof sichtbar werden, entstehen nicht dort, sondern sind sozialpolitischer Natur. Menschen ohne Wohnung, mit psychischen Erkrankungen oder in prekären Lebenssituationen suchen hier Schutz und Sichtbarkeit. Reisende und Gewerbetreibende empfinden das oft als Störung – dabei treffen schlicht unterschiedliche Bedürfnisse auf engem Raum aufeinander“, sagt sie.

Das spiegelt die gesellschaftlichen Spannungen und Versäumnisse im städtischen Raum wider. Die Deutsche Bahn könne das nicht lösen, sie könne lediglich versuchen, in den Bahnhöfen Rahmenbedingungen zu schaffen, in denen eine Koexistenz möglichst störungsfrei ist. Genau dieses Ziel verfolgt der Sicherheitsbahnhof.


"Obwohl der Bahnhof medial oder auch stadtpolitisch immer wieder besprochen und angesprochen wird, ist eine Vertretung vom Bahnhof bei den städtischen Gremien Stadt oft gar nicht vorhanden. Es wird viel über den Bahnhof gesprochen, aber ganz selten wird miteinander über den Bahnhof geredet."

Victoria Breda, Referentin für Securitymanagement Personenbahnhöfe


Die Deutsche Bahn arbeitet deshalb gezielt daran, diesen weichen Faktoren von Sicherheit mehr Raum zu geben. Beispielsweise in der baulichen Gestaltung von Bahnhöfen, Beleuchtung, bei Farbkonzepten und Wegführung. Bei einer Sitzung des Berliner Gewaltpräventionsrats lernte Victoria das Konzept der Parkläufer:innen kennen:


Menschen, die in Berliner Parks Nutzungskonflikte moderieren. Beispielweise im Görlitzer Park, wo Polizeieinsätze gegen Kriminalität und Drogenhandel bisher nur wenig zur Verbesserung der Situation beigetragen haben.

Die Parkläufer:innen fungieren als Mittler:innen zwischen Stadt, Anwohnenden, Tourist:innen und wohnungslosen Menschen, damit alle den Park nutzen können.


Victoria erkannte die Parallelen zwischen Parks und Bahnhöfen – und initiierte das Pilotprojekt Bahnhofsläufer:innen im Rahmen des Sicherheitsbahnhofs. "Wenn es im Park sinnvoll ist und gut ankommt, macht es doch Sinn, das in den Bahnhof zu übertragen, weil das auch ein öffentlich genutzter Ort ist, an dem viele verschiedene Menschen tagtäglich sind." Als Erprobungsorte wurden die beiden Berliner Bahnhöfe Ostbahnhof und Südkreuz ausgewählt.

Sie übernehmen also die Aufgaben, für die weder Bundespolizei noch DB Sicherheit Zeit und Kapazitäten haben: Tiefgehende Gespräche auf Augenhöhe, mit einer ähnlichen Erfahrung wie ihr Gegenüber und die Kapazität, sich mit einem Fall so lange zu beschäftigen, wie es akut notwendig war und stellen den Kontakt zu Hilfsorganisationen her.

Sie helfen Reisenden beim Koffertragen, unterstützen Menschen mit Einschränkungen, vermitteln bei Konflikten zwischen Gewerbetreibenden – und sind auch für wohnungslose Menschen da, die den Zugang zu Hilfsangeboten brauchen.

 

Im Gegensatz zu den Teams der DB-Sicherheit oder der Bundespolizei tragen Bahnhofsläufer:innen keine Uniform, sondern bedruckte Jacken. Sichtbar sollen sie sein, aber nicht bedrohlich wirken.

Florian erklärt den entscheidenden Unterschied: "Die Uniform ist vor allem bei marginalisierten Personengruppen schon stark gebrandet mit Problemen. Eine interviewte Person sagte zum Beispiel: 'Wir werden fünfmal die Nacht geweckt und immer wieder von derselben Streife rausgeschickt. Aber wir haben ja gar keinen anderen Platz.' Die Uniformen sind allein dadurch mit Problemen und Konflikten verbunden."

Drei Personen stehen mit dem Rücken zur Kamera. Auf ihren Jacken steht „Bahnhofsläufer:innen – think SI – For a better & safer together“ sowie das Logo der Deutschen Bahn. Eine der Jacken trägt zusätzlich die Aufschrift „Koordination“.
Unterwegs für ein besseres Miteinander an Bahnhöfen – die Bahnhofsläufer:innen. Quelle: DB AG

Die Bahnhofsläufer:innen sind keine Ordnungskräfte oder Sozialarbeitende, sondern Vermittler:innen. Ihre Aufgabe: Die Aufenthaltsqualität für alle Nutzenden des Bahnhofs verbessern und Nutzungskonflikte reduzieren – bevor sie entstehen. "Die Bahnhofsläufer:innen sollten, bevor Konflikte entstehen, präventiv die Leute ansprechen, sodass es erst gar nicht zur Unruhe kommt", ergänzt Victoria.

 

"Wenn ich Bahnhofsläufer:innen habe, die immer wieder an einem Ort sind, können sie ein Vertrauensverhältnis aufbauen und sich auch ganz anders auf Personen einstellen. Wenn dann diese eine Person nächste Woche Dienstag um 13 Uhr einen Termin hat, kann ich Hinweise geben und organisieren, dass dieser Mensch dann vielleicht eine Stunde vorher im richtigen Bus sitzt, um zu dem Hilfsangebot zu kommen."

Florian Horn, Projektleiter Forschungsvorhaben Sicherheitsbahnhof, DB InfraGO

 

Für Menschen in prekären Lebenslagen ist der Zugang zu Unterstützung oft eine kaum überwindbare Hürde. Schon das Wissen um vorhandene Hilfsangebote fehlt vielen – ebenso die Möglichkeit, Kontakt aufzunehmen. Wer kein Smartphone besitzt, keine stabile Tagesstruktur hat, Briefe schreiben oder sich telefonisch anmelden müsste, bleibt schnell außen vor.

Zusätzlich liegen viele Hilfsangebote in den Außenbezirken. "Wie sollen denn diese Menschen dorthin kommen?“, fragt Florian. „Wenn sie dahinfahren, begehen sie wieder eine Straftat, nämlich Erschleichen von Leistungen. Wenn sie erwischt werden, werden sie aus den Zügen rausgeworfen, die Bundespolizei wird hinzugezogen – damit ist keinem auch nur ein Schritt weitergeholfen."

 

Auch hier setzt die Arbeit der Bahnhofsläufer:innen an: Sie vernetzen den Bahnhof im Hilfesystem des Bezirks, knüpfen Kontakte zu sozialen Trägern und erinnern Leute auch ganz konkret an Termine oder begleiten sie zum richtigen Bus. "Die Bahnhofsläufer:innen waren aber keine aufsuchende Straßen- und Sozialarbeiter:innen", stellt Victoria Breda klar. "Das ist noch mal wichtig, die Abgrenzung. Sie sollten Vermittlungsstelle zwischen den unterschiedlichen Bedürfnisse sein."

Die wissenschaftliche Begleitung des Pilotprojekts in Berlin belegt den Erfolg: Bahnhofsläufer:innen reduzieren Konflikte, verbessern die Aufenthaltsqualität und werden von allen Nutzer:innengruppen als hilfreich wahrgenommen – von Reisenden über Gewerbetreibende bis zu marginalisierten Gruppen.

 

Sicherer Bahnhof: es geht nicht ohne die Kommunen

Während die Aufenthaltsqualität im Bahnhof, die Beleuchtung, das Mobiliar und auch die Sichtbarkeit der DB Sicherheit klassische Aufgabe der Bahn sind, können Herausforderungen durch drogenabhängige, wohnungslose oder psychisch kranke Personen nur gemeinsam mit den Kommunen und der Politik gelöst werden. "Wir müssen den Bahnhof als Teil des öffentlichen Raums mitdenken“, betont Victoria immer wieder. Doch politische Zuständigkeiten sind oft zersplittert. Wer ist verantwortlich, wer darf handeln, wer finanziert? Diese Fragen ziehen sich durch alle Ebenen – und machen Fortschritte mühsam. "Wir fangen schon mal an, wir versuchen ja auch im Rahmen unserer Möglichkeiten. Aber wir sind auf euch angewiesen und es funktioniert nur, wenn wir das städtische Bild und das direkte Bahnhofsumfeld und den Bahnhof gemeinsam denken", sagt Victoria in Richtung der Politik.


Bisher finanziert die DB InfraGO die Bahnhofsläufer:innen aus eigenen Mitteln. „Oftmals ist der Grund, warum es an anderen Standorten noch nicht klappt, gar nicht mangelnde Bereitschaft“, sagt Victoria. „Im Gegenteil – die Bahnhofsmanager:innen hätten große Lust, das umzusetzen. Aber häufig fehlt die finanzielle Beteiligung der Städte. Und allein können wir das nicht stemmen.“

Ihr Wunsch an potenzielle Partner ist eindeutig: „Bezirke und Kommunen wären meine Wunschpartner: Es wäre so wichtig, wenn wir gemeinsam über Sicherheit im Bahnhof und im direkten Bahnhofsumfeld nachdenken würden. Viele Vorplätze gehören ja der Stadt und gar nicht uns – und trotzdem werden sie uns zugerechnet.“


Nach dem erfolgreichen Pilotprojekt in Berlin hat das Konzept bereits Nachahmer gefunden: Seit Oktober 2025 sind Bahnhofsläufer:innen in Hannover im Einsatz, umgesetzt durch die Bahnhofsmission. In Nürnberg hat die Stadtmission das Modell übernommen, weitere Städte – insbesondere in Nordrhein-Westfalen – prüfen derzeit eine Einführung.

Für Städte und Kommunen, die sich für das Konzept interessieren, haben die beiden eine klare Botschaft: Es gibt keine Patentlösung – aber es gibt eine Vision: ein Bahnhof, der als das gesehen wird, was er ist – ein öffentlicher Raum, in dem Menschen mit unterschiedlichsten Bedürfnissen aufeinandertreffen. Ein Ort, an dem Sicherheit nicht nur durch Kontrolle entsteht, sondern durch Begegnung, Vermittlung und Verständnis.

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