Zehn Prozent mehr Zeit für den gleichen Weg: Wie Verkehrsplanung Menschen diskriminiert
- womeninmobility
- 14. Juli
- 4 Min. Lesezeit
Gleiche Stadt, gleiche Strecke – aber nicht für alle die gleiche Zeit. Eine neue Studie deckt auf, wie Menschen mit Migrationshintergrund täglich benachteiligt werden, obwohl sie dieselben Wege zurücklegen. Zeit für eine Verkehrswende, die wirklich alle mitdenkt.

Seit mittlerweile zehn Jahren setzt sich Women in Mobility (WiM) dafür ein, die Sichtbarkeit von Frauen in der Mobilitätsbranche zu stärken. In dieser Zeit ist klar geworden: Sichtbarkeit allein reicht nicht. Deshalb rücken wir die feministische Verkehrswende zunehmend in den Fokus. Unser Ziel ist eine Mobilität, die nicht nur nachhaltig ist, sondern auch fair, zugänglich und inklusiv. Eine Mobilität, die für alle funktioniert – nicht nur für Pendelnde mit gutem Einkommen. Wir machen uns für Mobilitätslösungen stark, die die vielfältigen Lebensrealitäten von Menschen berücksichtigen: Frauen, die spätabends aus Sicherheitsgründen den ÖPNV meiden. Eltern mit Kinderwagen, die an kaputten Aufzügen scheitern. Menschen im Rollstuhl, die in Regionalbahnen mangels Einstiegshilfe nicht mitgenommen werden. Menschen, die wenig Geld zur Verfügung haben.
Doch es geht um noch mehr, wie auch eine neue Studie belegt: Die Forschung von Sarah George, Katja Salomo und Theresa Pfaff vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) hat ergeben, dass auch Menschen mit Migrationshintergrund deutlich benachteiligt sind, wenn es um Alltagsmobilität geht. Sie benötigen im Schnitt zehn Prozent mehr Zeit für identische Wegstrecken als Menschen ohne Migrationshintergrund.
Die im April 2025 im Journal of Ethnic and Migration Studies veröffentlichte Studie "Socio-Spatial Inequalities in Urban Mobility: The Immigrant-Native Travel Time Gap in German Cities" basiert auf einer umfassenden Datenanalyse von über 54.000 Personen aus 82 deutschen Großstädten. Zusätzlich führten die Forscherinnen 29 qualitative Interviews mit Menschen türkischer und arabischer Herkunft durch.
Die Zahlen sind eindeutig: Auf Arbeits- und Alltagswegen, die mit Sorgearbeit verbunden sind – wie Arztbesuche mit Verwandten oder das Bringen der Kinder in die Kita –, benötigen Menschen mit Migrationshintergrund für die gleichen Strecken neun Prozent mehr Zeit. Für Besorgungen sind sie sogar elf Prozent länger unterwegs als die übrige Bevölkerung. Ein zentrales Problem liegt in der unterschiedlichen Verfügbarkeit von Verkehrsmitteln: Menschen mit Migrationshintergrund besitzen weniger Autos pro Haushalt und legen entsprechend weniger Wegstrecken mit dem Auto zurück. Das Automobil ist in deutschen Städten oftmals immer noch das schnellste und effizienteste Verkehrsmittel, trotz des vergleichsweise gut ausgebauten öffentlichen Nahverkehrs.
Deutschland bietet sich als besonders interessantes Fallbeispiel an: Zum einen wegen seiner starken Abhängigkeit vom Auto (Saeidizand, Fransen und Boussauw 2022), zum anderen als eines der wichtigsten Einwanderungsländer weltweit. Ob sich in Deutschland ähnliche Muster zeigen wie in den USA, ist bislang offen – denn ethnische Segregation wird hier primär durch Migration beeinflusst, nicht – wie in den USA – durch eine historisch gewachsene rassistische Diskriminierung.
George, Sarah; Salomo, Katja; Pfaff, Theresa (2025): Socio-Spatial Inequalities in Urban Mobility: The Immigrant-Native Travel Time Gap in German Cities. Journal of Ethnic and Migration Studies. DOI: 10.1080/1369183X.2025.2492346
Doch selbst wenn man soziodemografische Faktoren wie Alter, Einkommen und andere Merkmale berücksichtigt, bleibt der zeitliche Mehraufwand bestehen. Die Autorinnen der Studie identifizierten weitere strukturelle Faktoren:
Menschen mit Migrationshintergrund leben häufig in Stadtvierteln, die zwar zentral liegen, aber infrastrukturell unterversorgt sind. Während sie bei Arbeitswegen durch die Innenstadtlage Zeit sparen können, verlängern sich dadurch ihre Wegezeiten für Sorgearbeit und alltägliche Einkäufe erheblich. Diese Innenstadtwohngegenden sind in der Regel weder gute Einkaufsgegenden noch Orte hoher Versorgungsdichte.
Die qualitativen Interviews zeigen, dass Menschen mit Migrationshintergrund nicht die gesamte Vielfalt von Verkehrsangeboten zur Verfügung steht. Sie sind mehr als alle anderen gesellschaftlichen Gruppen auf den öffentlichen Verkehr angewiesen und bekommen damit auch die Nachteile stärker zu spüren: mangelndes Sicherheitsgefühl, Unzuverlässigkeit von Busverbindungen und unzureichende Anbindungen, die häufiges Umsteigen nötig machen.
Besonders deutlich wird: Zeit ist eine begrenzte Ressource. Wer täglich länger unterwegs ist, hat weniger Zeit für Familie, Erholung, Engagement oder Weiterbildung. Studien zeigen: Zeitknappheit belastet die psychische und physische Gesundheit und verringert gesellschaftliche Teilhabe. Der Preis für mangelhafte Infrastruktur wird überproportional von denen gezahlt, die ohnehin weniger Ressourcen haben. Mobilität wird so zur Frage der Teilhabe – und zur sozialen Frage.
Intersektionalität als Schlüssel zur inklusiven Verkehrswende
Die feministische Verkehrswende, wie wir sie verstehen, ist daher intersektional. Sie schaut nicht nur auf Geschlecht, sondern auf das Zusammenspiel von Diskriminierungsformen: Geschlecht, Herkunft, Einkommen, Familienrolle, Behinderung. Die WZB-Studie zeigt exemplarisch, wie sich verschiedene Benachteiligungen in der Alltagsmobilität überlagern und verstärken können.

Frauen mit Migrationshintergrund sind dabei besonders betroffen: Sie übernehmen oft einen Großteil der Sorgearbeit – von Kinderbetreuung bis zur Begleitung älterer Familienmitglieder zu Arztterminen. Gleichzeitig sind sie überproportional auf den öffentlichen Nahverkehr angewiesen und müssen mit dessen Defiziten leben: unzuverlässige Verbindungen, Sicherheitsbedenken und mangelnde Barrierefreiheit.
Deshalb setzen wir uns für vielfältig besetzte Gremien und Entscheider*innen-Boards ein. Deshalb wollen wir, dass Daten über Mobilitätsnutzung endlich differenzierter erhoben werden – nicht nur nach Geschlecht, sondern auch nach Migrationshintergrund, Einkommen und anderen relevanten Faktoren. Und deshalb sagen wir: Wer über Verkehrswende spricht, darf soziale und kulturelle Ungleichheiten nicht außen vor lassen.
Die WZB-Studie macht deutlich: Verkehrswende ist Gerechtigkeitspolitik. Sie kann nur gelingen, wenn sie die Lebensrealitäten aller Menschen in den Blick nimmt – und nicht nur die der privilegierten Mittelschicht.