Unsere Mobilmacherin der Woche, Sandra Witzel, will Mobilität für alle Menschen nutzbar machen. Denn viele Mobilitätsangebote schließen Menschen aus: Menschen mit Behinderung, finanziell benachteiligte Gruppen, Ältere oder Menschen ohne Smartphone. Sie sagt: Das Bewusstsein sei oft da, aber die Umsetzung fehle.
Sandra Witzel ist Chief Marketing Officer und Mitglied des Vorstands von SkedGo in England; einem internationalen Mobility-as-a-Service (Maas)-Anbieter. SkedGo stellt seine Technologie Start-ups und Unternehmen aber auch Kommunen und Regierungen zur Verfügung, damit sie eigene MaaS-Anwendungen anbieten können.
„Wir wollen Mobilität für alle Menschen nutzbar machen, nicht nur für die schmale Gruppe der 20- bis 40-Jährigen, die in Innenstädten leben“, sagt Witzel. Darüber hinaus setzt sie sich ganz persönlich für barrierefreie, inklusive Mobilität ein und ist Mitgründerin der Women in Mobility UK. Und das, obwohl sie zu Beginn ihres Berufslebens gar nichts mit Mobilität zu tun gehabt habe, erzählt Witzel.
Vom Online-Gambling zur barrierefreien Mobilität
„Ich war in der Online-Glücksspielbranche gelandet. Da hat man schnell Karriere gemacht, gut verdient und die Entwicklungsmöglichkeiten im Job waren sehr gut“, sagt Witzel. „Aber dass man mit dem, was man macht, Schaden zufügt, konnte ich mit meinem Gewissen schnell nicht mehr vereinbaren.“ Sie wanderte nach Australien aus und arbeitete zunächst in der Fin Tech-Branche. „Ich habe aber auch gemerkt: die Leidenschaft habe ich da nicht für.“
Bei SkedGo sei sie eher zufällig gelandet. Ein guter Freund von ihr aus Australien, der das Unternehmen mitgegründet habe, habe sie gefragt, ob sie sich nicht um das Marketing kümmern wolle. „Wir sind schon immer sehr gut klargekommen, also bin ich mit eingestiegen, aber am Anfang war das auch erstmal nur ein Job für mich. Ich hatte da kaum persönlichen Zusammenhang oder besondere Leidenschaft dafür.“
Das habe sich geändert, als sie ihren persönlichen Bezug zur Mobilität entdeckt und den auch in die Vermarktung des Produkts eingebracht habe. Witzel sagt: „Ich lebe mit Behinderung. Ich habe seit über 20 Jahren schweres Rheuma und dadurch Probleme mit dem Laufen, mit den Gelenken, und leide an chronische Schmerzen.“
Ich habe eine Präsentation für eine Konferenz vorbereitet und mir gedacht: das ist so eine richtig langweilige Geschäftspräsentation. Und dann habe ich gemerkt: ich habe doch einen persönlichen Bezug zur Mobilität, ich bin auch Mobilitätsnutzerin und die Mobilitätsindustrie bereitet mir viele Probleme. Die macht mein Leben wirklich schwer. Das habe ich dann in diese Präsentation integriert.
Sandra Witzel, CMO und Vorstandsmitglied bei SkedGo
Durch das Einbringen ihrer persönlichen Erfahrung mit Mobilität habe der Vortrag nicht nur ihr mehr Spaß gemacht, auch das Publikum habe ganz anders darauf reagiert. „Ich habe gemerkt, dass ich ein bisschen über meinen Schatten springen und das Persönliche mit einbringen muss. Was zunächst nicht einfach war. Man will ja auch nicht unbedingt immer über die Behinderung sprechen.“
Inzwischen bereite ihr das keine Probleme mehr, weil sie durch ihren persönlichen Bezug zum Thema Barrierefreiheit und inklusiver Mobilität in der Branche etwas bewegen könne. „Die Leute finden einen ganz anderen Zugang zum Thema, wenn ich auf der Bühne stehe und davon erzähle, dass ich nicht in ein Zugabteil rein- und raus kann, weil zwischen dem Einstieg und der Plattform ein Abstand von einem Meter ist - und was das für meine Lebensqualität bedeutet.“
Das Bewusstsein sei oft da, die Umsetzung fehlt
Mittlerweile ist Witzel gefragte Sprecherin zum Thema Barrierefreiheit auf Konferenzen und sitzt im Vorstand verschiedener Non-Profit-Organisationen, die sich für inklusive und nachhaltige Mobilität einsetzen.
Ich bin zwar eher zufällig in der Mobilitätsbranche angekommen aber kann mir jetzt etwas anderes kaum vorstellen und bin sehr leidenschaftlich dabei. Es lohnt sich wirklich an der eigenen persönlichen Nische zu arbeiten und Zeit in Aktivismus zu investieren. Meine Berufszufriedenheit und Motivation sind enorm.
Sandra Witzel, CMO und Vorstandsmitglied bei SkedGo
Nur an der Situation habe sich bisher nichts oder wenig geändert, sagt sie. Gerade in Großbritannien sei Mobilität für Menschen mit einer körperlichen Behinderung eine große Herausforderung. „Da ist man glaube ich in Deutschland oder auch in den skandinavischen Ländern schon viel, viel weiter. Auch weil man mehr in die öffentlichen Verkehrsmittel und in die Infrastruktur investiert“, sagt sie.
Dagegen gebe es in Großbritannien häufig die Ausrede, dass die Infrastruktur so alt sei, dass sie nicht barrierefrei sein könne. „Deshalb hat Großbritannien auch große Probleme mit zu vielen Autos auf der Straße und vielen Barrieren. Das ist hier sehr frustrierend und es hat sich in den letzten Jahren leider nicht viel daran geändert. ‚Alte Infrastruktur‘ ist eine Ausrede für mangelnde Investitionen und fehlgeleitete Prioritäten.“
Die größten Hürden im ÖPNV: Ein- und Ausstiege
Es gebe kaum öffentliche Verkehrsmittel in Großbritannien, die barrierefrei zu erreichen seien, sagt Witzel. Busse seien noch am einfachsten zu benutzen – wenn die Fahrerinnen und Fahrer das Fahrzeug nah genug an den Gehsteig heranfahren. „Probleme hat man, zum Beispiel in London, mit der U-Bahn. Im Vergleich zu der Größe des gesamten Netzwerks gibt es nur sehr wenige U-Bahn-Stationen, die komplett barrierefrei sind“, sagt sie.
Bei den regionalen Bahnnetzwerken ist es noch schlimmer. Wegen der großen Abstände zwischen Gleis und Zug müsse sie sich Reisebegleitungen buchen, um ein- und aussteigen zu können. Hier habe sich in den letzten 20 Jahren nicht viel verändert, sagt Witzel. Menschen mit Behinderungen können diese ohne Hilfe kaum oder gar nicht nutzen, solange sie keine Assistenz an ihrer Seite haben.
Ich fahre in England viel Auto, oder benutze ride sharing Angebote, das ist für mich am einfachsten. Auch wenn ich im Stau stecke, komme ich von A nach B – ohne Probleme. Ich muss mich nicht mit einem Busfahrer streiten oder befürchten, dass ich nicht aus dem Zug komme, weil die Reisebegleitung nicht aufgetaucht ist.
Sandra Witzel, CMO und Vorstandsmitglied bei SkedGo
An der Situation werde sich ohne politischen Druck auch nichts ändern, so Witzel. „Sobald der Druck da ist, finden sich Lösungen und dann findet man auch das Geld dafür. Anders passiert leider nichts.“ Stattdessen werde die Verantwortung auf die Fahrgäste abgewälzt: sie müssen sich darum kümmern, dass sie öffentlichen Nahverkehr nutzen können. Im privatwirtschaftlichen Bereich sei das teilweise anders, weil Unternehmen hier einen größeren Wettbewerbsdruck haben. Aber auch dort sei die Antwort auf die Frage nach Barrierefreiheit häufig: es gibt eine Rampe.
Witzel sagt: „Vielen Menschen nützt eine Rampe wenig. Sie brauchen einen dauerhaften stufenlosen Zugang. Das hilft ja nicht nur Menschen mit Behinderungen, sondern auch Eltern mit Kinderwagen oder kleinen Kindern, älteren Menschen, Menschen mit temporären Beeinträchtigungen usw. Das ist nun wirklich keine kleine Gruppe.“
Ein gutes Beispiel für diesen stufenlosen Zugang habe sie in Reykjavík gesehen. Dort hätten viele Geschäfte keine Stufe vor der Tür, sondern den Gehweg sanft angehoben, so dass Menschen mit Rollator, Kinderwagen, Rollstuhl oder Rollkoffer die Läden barrierefrei betreten können. Ohne vorher fragen zu müssen, ob ihnen jemand eine tragbare Rampe bringen könne. Eine gute Lösung für alle, so Witzel. „Die Barrieren kommen ja nicht von meiner Behinderung, sondern von meinem Umfeld. Deshalb finde ich, dass der Anspruch sein müsste, dass das Umfeld sich anpasst und nicht derjenige, der behindert wird.“
Inklusion heißt auch: Lösungen für Menschen ohne Smartphone schaffen
Aktuell habe SkedGo in den USA ein Projekt mit einer NGO und der Regierung, bei dem es spezielle um Mobilität für Menschen mit Behinderung oder anderen benachteiligten Gruppen gehe. Dort könne MaaS-Technologie vielen das Leben erleichtern. Witzel gibt ein Beispiel:
„Einer der Klienten unserer Projektpartnerin studiert Rechtswissenschaften, ist blind und muss jede Woche organisieren, wie er zu den Vorlesungen und wieder nach Hause kommt. Diese Transporte kann man nur eine bestimmte Zeit im Voraus buchen, so dass er zweimal pro Woche dort anrufen und in der Warteschleife auf eine:n Ansprechpartner:in warten muss. Er verbrachte damit mehr als 250 Stunden im Jahr am Telefon.“
Mit einer entsprechenden screenreader-freundlichen App, über die er seine Fahrten bucht, habe der Mann ein riesiges Stück Lebenszeit zurückgewonnen. Apps seien allerdings auch nicht das Allheilmittel. „Wenn man wirklich inklusiv sein will, muss man auch Leute berücksichtigen, die kein Mobiltelefon oder kein Bankkonto haben. Das ist gerade in den USA ein großes Problem“, sagt Witzel.
Wir werden doch alle irgendwann alt und klapprig. Warum kreieren wir dann nicht die Mobilitätssysteme für unser 80jähriges Selbst? Das finde ich extrem kurzsichtig.
Sandra Witzel, CMO und Vorstandsmitglied bei SkedGo
Entsprechend arbeite SkedGo’s Klient in den USA auch mit Callcentern und in den Fahrzeugen könne mit Bargeld bezahlt werden. Denn auch das kontakt- und bargeldlose Zahlen mit dem Handy schließe viele Gruppen aus. „Die bleiben dann zu Hause.“
Kommentare